Der Kolonialismus in der mittelhessischen Provinz

Der Ausländerbeirat Marburg besuchte im August die Sonderausstellung „Das Zollamt in Marburg: Kolonialismuskritik und Politische Ikonographie in der frühen Bundesrepublik“ im Marburger Kunstmuseum.

  • Dr. Kathrin Bonacker und Prof. Dr. Benedikt Stuchtey (rechts obere und untere Reihe) und die Mitgleider des Ausländerbeirats Marburg (von rechts) Sylvie Cloutier, Goharik Gareyan, Xiaotian Tang, Sherif Korodowou, Sareh Derassaree, Fadi Einuz und Marico Engel (nicht auf dem Bild).

Zuletzt wurde in der Stadt Marburg engagiert über die Rolle von Symbolen und Namen im Kontext des deutschen Kolonialismus debattiert. Soll es etwa zu einer Umbenennung der Bismarckstraße kommen oder soll das Relief am Marburger Zollamt heruntergenommen werden, sind hier aktuelle Fragen. In der Diskussion möchte sich der Ausländerbeirat Marburg ein eigenes Bild verschaffen. Denn da einige seiner Mitglieder aus früher kolonisierten Ländern stammen, ist dies auch für ihn ein emotionales Thema.

Um die Debatte zu versachlichen, lud der Ausländerbeirat daher seine Mitglieder am 30. August in das Kunstmuseum Marburg. Dort besichtigten sie die Sonderausstellung „Das Zollamt in Marburg: Kolonialismuskritik und Politische Ikonographie in der frühen Bundesrepublik“ unter der fachkundigen Leitung der Kuratorin Dr. Kathrin Bonacker. Begleitet wurde die Gruppe zudem von Professor Dr. Benedikt Stuchtey (Neuere und Neueste Geschichte, Universität Marburg), der nach der Besichtigung in einer offenen und lebhaften Diskussion weitere Fragen hinsichtlich des deutschen und des europäischen Kolonialismus beantwortete. Frau Dr. Bonacker führte die anwesenden 7 Mitglieder, die unterschiedlichster Herkunft sind (Philippinen, Togo, Iran, China, Armenien, Israel und Kanada) in die Ausstellung ein. Wegen des Corona-Hygieneplans durfte sich leider nur eine Gruppe von maximal 10 Personen im Museum versammeln, aber das Thema wird sicherlich weiterhin im Gespräch bleiben.

Frau Dr. Bonacker erklärte, dass man Symboliken nur aus ihrer Zeit heraus erkennen können. Das Zentralbild des Reliefs beim Zollamt zum Beispiel lässt sich heutzutage nicht mehr so leicht erklären. Aber zu seiner Entstehungszeit kurz nach dem zweiten Weltkrieg gaben solche Reliefs Hinweise auf die Funktion eines Gebäudes wieder, natürlich mit Symboliken die die Menschen damals verstanden. Zum Beispiel sind einige Museumbesucher erstaunt, dass die zwei Arbeiter rechts auf dem Relief Europa darstellen sollen, aber Stahlarbeiter scheinen heute im öffentlichen Bild nicht mehr so präsent und schon gar nicht mit Basthut. Was damals als Symbol des Fremden akzeptiert war, ist glücklicherweise heutzutage nicht mehr vertretbar. In der Ausstellung konnte man nachvollziehen, wie die verschiedenen abgebildeten Figuren (den Chinesen, den Afrikaner, den Stahlarbeiter und den Chemiker) der Bildsprache der damaligen Zeit entsprachen. So finden sich dort Werbeplakate voller markanter und abwertender Stereotypen der Epoche. Diese Einordnung relativierte für die Mitglieder des Ausländerbeirats einigermaßen die Schwere der Problematik des Reliefs. Ein Werbeplakat der 60er zeigte wie die Clichés der Zeit funktionierte: Eine Frau im Bikini, kniend, hatte denselben Status wie ein schwarzer Mannes, auch er kniend, während der weiße Mann stehend dargestellt worden ist. Diese Clichés funktionieren heutzutage einfach nicht mehr!

Die Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war aufgeteilt in Länder, die kolonisiert wurden, oder Länder, die kolonisiert haben, erklärte Prof. Dr. Stuchtey. Auch wenn dies immer dynamische und fließende Prozesse waren, führte dies auch dazu, dass auch in der mittelhessischen Provinz Kolonialismus und die ethnischen Stereotypen „Class, Gender and Race“ spürbar und sichtbar wurden. Das Relief am Zollamt ist ein Beispiel dafür und man wundert sich über manche Symbolik des Kolonialismus in so einer kleinen Stadt, die keine direkte Kolonialismusvergangenheit hatte, wie die großen Metropolen der Welt. Überraschenderweise erklärt Benedikt Stuchtey, wird so auch eine kleine Stadt wie Witzenhausen bei Kassel, wegen seiner Landwirtschaftsschule weltweit bekannt. Ein Mitglied des Ausländerbeirats konnte dies sofort bestätigen: „Ich kannte einen Pfarrer aus Witzenhausen und viele Bekannte aus west afrikanischen Länder, waren sehr stolz auf ihre Zeugnisse aus Witzenhausen!“.

Die Diskussion war insgesamt sehr anregend und unterschiedliche Kolonialerfahrungen hinsichtlich Deutschlands und der Herkunftsländer der Mitglieder des Ausländerbeirats wurden erläutern. Auch wenn diese sehr unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Kolonialismus gemacht haben und dessen Rolle für die Entwicklung der Welt auch nicht gleich bewerten, blieb doch die Gewissheit, dass die Ungleichheiten der Vergangenheit leider noch bis in die Gegenwart zu spüren sind. „Und da genügt es vermutlich nicht Statuen und Namen zu entfernen“, meinte Goharik Gareyan, Vorsitzende des Ausländerbeirats Marburg. Die Nachkommen der Kolonisierer und der Kolonisierten müssen dies gemeinsam in vertrauensvollen Gesprächen aufarbeiten, denn auch dies zeigte dieser Tag, nicht alles ist so eindeutig wie man auf den ersten Blick meinen möchte.

Sylvie Cloutier, stellvertretende Vorstandsvorsitzende, Mitglied des Ausländerbeirates seit 2015